Seit 1993 kann man in der Schweiz mit «Talenten» statt mit Geld wirtschaften. Wer bei «TALENT Schweiz» mitmacht, kann zum Beispiel Brennholz verkaufen. Mit den verdienten «Talenten» kann er oder sie einen Computerkurs bezahlen oder Honig kaufen. Wie das funktioniert, konnte man am 19. Oktober in Lenzburg erleben. Die Idee hinter «Talent» stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert, als Antwort auf Wirtschaftskrise und Verarmung.
19. Oktober 2013, 10 Uhr. Die grosse Halle des reformierten Kirchgemeindehauses Lenzburg füllt sich mit Leben. Kinder probieren das Glücksrad aus, ein veganer Imbiss-Stand wird eingerichtet. Einige Frauen und Männer breiten selbstgemachte Konfitüre, Wollsocken, Tragtaschen aus Recycling-Material und andere Waren aus. Ein Verkäufer preist gebrauchte Haushaltsgegenstände an. Auch Dienstleistungen werden angeboten: In einer Ecke setzt sich ein erster Kunde auf den Massagestuhl.
Mit «Talenten» einkaufen
Es sähe aus wie eine Mischung aus Flohmarkt und Steinerschule-Basar, wäre da nicht dieser Tisch am Eingang mit der Aufschrift «TALENT». Hier heben die Mitglieder von TALENT Schweiz ihr virtuelles Guthaben in Form von farbigen «Banknoten» ab. Nicht-Mitglieder können «Talente» gegen Schweizer Franken kaufen. Die «Talent»- Scheine dienen während des ganzen Jubiläumsfestes als Zahlungsmittel. Im Alltag sind die rund 80 Teilnehmenden unter anderem als Unternehmensberater, Sozialpädagoginnen, Bauschreiner oder Kunsthandwerkerinnen tätig. Heute sind sie nach Lenzburg gereist, um Waren und Dienstleistungen, aber auch Ideen, Visitenkarten und Fachwissen auszutauschen.
Von Wirtschaftswachstum bis Zauberei
In Workshops können sie sich über Solarkocher informieren und über Permakultur austauschen. Auf grosses Interesse stossen die Diskussionsrunden und Vorträge zu wirtschaftspolitischen Fragen. Welche Auswirkungen hat das Wirtschaftswachstum auf Mensch und Umwelt? Was ist unter «Vollgeld» zu verstehen? Wer lieber neue Ideen als das Bruttosozialprodukt wachsen lässt, ist im Kreativitätstraining am richtigen Ort. Den Abend können die Gäste bei Didgeridoo-Klängen, Märchen und einer Zaubervorführung ausklingen lassen.
Eine Währung zum Ausgeben
Was am 19. Oktober gefeiert wurde, nahm vor 20 Jahren seinen Anfang. Eine Gruppe von rund 300 Menschen aus der Deutschschweiz rief die Währung «Talent» ins Leben. Die Idee dahinter ist einfach: Jeder Mensch hat Fähigkeiten und Begabungen. Nicht alle lassen sich im Beruf einsetzen. So restauriert ein Unternehmensberater zum Beispiel gerne Möbel. Wenn er seine Leistung über TALENT verkauft, erhält er eine Gutschrift auf seinem Konto. «Das Interessante am TALENT-Konzept ist, dass das Tauschmittel in dem Moment entsteht, in dem es gebraucht wird», erklärt Vereinspräsidentin Ursula Dold. «Sobald sich Anbietende und Nachfragende auf einen Preis geeinigt haben, werden neue Talente geschaffen. Damit wächst die Geldmenge im Gleichschritt mit dem Angebot an Waren und Dienstleistungen.» Gehandelt wird an den Regionaltreffen, im Internet oder an nationalen Märkten. Auch ein Handel mit anderen Tauschsystemen und -kreisen ist möglich. Horten lassen sich die «Talente» allerdings nicht: Sie verlieren jedes Jahr an Wert.
Was wünscht sich der Verein für die Zukunft? «Wir hätten gerne mehr Leute, die Alltagsgüter anbieten, wie beispielsweise Lebensmittel», erklärt Dold. Bis jetzt gebe es nur wenige Betriebe, wie zum Beispiel Bauernhöfe oder Metzgereien, die «Talente» als Zahlungsmittel annähmen. «Das ‘TALENT’-Konzept wäre gerade für Personen mit tiefem Einkommen und für Erwerbslose interessant. Diese müssten aber auch Esswaren und Kleider kaufen können».
Eine Währung mit Vorgeschichte
Die Idee eines Zahlungsmittels, das seinen Wert mit der Zeit verliert, geht auf Silvio Gesell zurück. Der deutsche Geschäftsmann lebte Ende des 19. Jahrhunderts in Argentinien. Die dortige Wirtschaftskrise brachte ihn dazu, sich zu überlegen, wie eine Wirtschaftordnung aussehen könnte, die allen Menschen Wohlstand und Beschäftigung bietet. Die Ursache der Krise entdeckte er schliesslich darin, dass Geld gehortet wird, anstatt im Umlauf zu bleiben. Sein Vorschlag war, dass für gehortetes Geld eine Gebühr zu entrichten sei als Anreiz, das Geld rasch wieder zu investieren. Später stellte er auch noch Überlegungen zum Bodenrecht an. Seine Gedanken fasste Gesell 1916 in seinem Hauptwerk «Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld» zusammen. Im April 1919 beteiligte sich Gesell als Volksbeauftragter für das Finanzwesen an der ersten bayerischen Räterepublik.
Ähnliche Ziele verfolgte Bürgermeister Unterguggenberger aus dem österreichischen Wörgl in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Um gegen Arbeitslosigkeit und Armut vorzugehen, beschloss er, Gutscheine auszugeben für gemeinnützige Arbeiten. Mit den Gutscheinen konnten die Menschen unter anderem ihre Steuren bezahlen. Die Gutscheine hatten ein Verfalldatum und mussten deshalb rasch eingelöst werden. Dank diesem System konnten ein Kindergarten sowie Strassen gebaut werden. Leider wurde das Projekt nach etwas mehr als einem Jahr von der Zentralbank verboten.
Ausser TALENT orientiert sich auch die schweizerische KMU-Parallelwährung «WIR» an den Prinzipien Silvio Gesells. Auch das WIR-Geld entstand während der Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre. Daneben gibt es in der Schweiz noch andere Parallelwährungen. Die Cumulus-Punkte der Migros sowie die Reka-Checks gehören ebenso dazu wie die Gutschriften verschiedener lokaler Tauschkreise.